Wissen rund um die Praxis

Vom Standardpatienten zu mehr Gendermedizin

Lange Zeit galt der Mann als Referenzobjekt in der Medizin: Noch bis in die 1990er-Jahre wurden Medikamente fast ausschließlich an Männern getestet. Heutzutage herrscht Konsens darüber, dass die Wirksamkeit von Medikamenten und das Auftreten unerwünschter Ereignisse bei Mann und Frau zum Teil stark verschieden sind. Eine aktuelle repräsentative Umfrage ergab nun, dass sich viele Menschen in Deutschland eine geschlechtersensiblere Medizin wünschen.

Hohes Bewusstsein für Genderunterschiede in der Medizin

In der bundesweiten, repräsentativen Online-Umfrage „Geschlechtersensible Medizin“, an der 1.000 Personen über 18 Jahre teilgenommen hatten, wurde erfragt, wie weit Genderunterschiede in der Medizin nach Meinung der Teilnehmenden derzeit berücksichtigt werden. Zunächst wurde erfasst, wie verbreitet das Wissen über geschlechtsspezifische Unterschiede bei Erkrankungen ist. Die Mehrheit der Befragten gab an, dass es deutliche Genderunterschiede bei Erkrankungsrisiken, Symptomen und Wirksamkeit bestimmter Medikamente gibt.

Viele Befragte wünschen sich außerdem mehr Informationen zu geschlechterspezifischen Unterschieden bei Medikamenten: 87 % der Teilnehmenden möchten klare Hinweise in der Packungsbeilage, bei welchen Aspekten des Arzneimittels Unterschiede zwischen Männern und Frauen vorliegen. Acht von zehn Teilnehmenden wünschen sich mehr Informationen darüber, wie sich verschiedene Erkrankungen bei Männern und Frauen bemerkbar machen. Außerdem sind 86 % der Teilnehmenden der Meinung, der Gesetzgeber sollte klare Regeln für die Angaben von Informationen zu Genderunterschieden bei Medikamenten machen. In einem im Februar 2022 veröffentlichten Beitrag zu den Ergebnissen der Online-Umfrage schlussfolgern die Autorinnen und Autoren, dass das Bewusstsein über Genderunterschiede in der Medizin in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Die Ergebnisse könnten ein weiterer Schritt Richtung geschlechtersensibler Medizin sein: Idealerweise sollten bei Medikamenten, die bereits auf dem Markt sind, bekannte Genderunterschiede kommuniziert und fehlende Daten durch geeignete Studien erhoben werden. Bereits seit 2004 müssen Pharmaunternehmen eventuelle Genderunterschiede in ihren klinischen Studien vor Markteintritt überprüfen – auch wenn Frauen und Männer nicht zu gleichen Teilen in die Studien eingeschlossen werden. Auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft verlangt mittlerweile, dass sich Forschende mit der Frage beschäftigen, ob und wie Genderunterschiede in ihren Forschungen berücksichtigt werden müssten.

Symptome bei Männern und Frauen: Notfall oder kein Grund zur Panik?

Ursprünge der geschlechtersensiblen Medizin liegen in den 1980er-Jahren. Damals fiel Medizinerinnen und Medizinern auf, dass sich Herzinfarkte bei Frauen anders äußern als bei Männern. Die Symptome Brust- und Armschmerzen, die viele Menschen auch heutzutage immer noch als die typischen Anzeichen für einen Herzinfarkt werten, treffen auf die meisten Frauen nicht zu. Bei Frauen äußern sich Herzinfarkte oft durch Schmerzen zwischen den Schulterblättern, im Nacken oder im Kopf, oder auch durch Übelkeit und Schweißausbrüche. Die Tatsache, dass viele Menschen nichts von diesen Genderunterschieden wissen, ist kritisch – Notfälle könnten so als Unwohlsein verkannt werden. Auch bei anderen Erkrankungen gibt es deutliche Unterschiede: Männer haben nach derzeitigem Kenntnisstand nach Covid-19-Infektionen häufiger schwere Krankheitsverläufe als Frauen. Virusinfektionen können vom weiblichen Organismus generell besser bekämpft werden, denn Frauen entwickeln durch die höheren Östrogenspiegel meist eine effektivere initiale Immunantwort. Männer sind auch bei psychischen Erkrankungen eher im Nachteil: Im Durchschnitt werden solche Erkrankungen bei Männern später erkannt als bei Frauen, was mitunter auch lebensbedrohlich sein kann. Die Tatsache, dass psychische Erkrankungen bei Männern häufig immer noch als Tabu-Thema gelten und Männer später psychotherapeutischen Rat suchen, könnte die geschlechterspezifischen Unterscheide zusätzlich verschärfen.

Fazit

Genderunterschiede in der Medizin sind seit mehr als 40 Jahren bekannt. Laut Daten einer aktuellen, repräsentativen Befragung sind den meisten Deutschen die Unterschiede bei Wirksamkeit, Verträglichkeit und Symptomen bekannt. Der Großteil der Befragten wünscht sich mehr Aufklärung durch die Ärztin oder den Arzt sowie Gesetze zur Beachtung und Kommunikation von Genderunterschieden bei Medikamenten. Mit der Umfrage ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr geschlechtersensibler Medizin gemacht.

Referenzen:

1. pronovaBKK: Geschlechtersensible Medizin - Ergebnisse einer Bevölkerungsbefragung, Februar 2022; https://www.pronovabkk.de/media/downloads/presse_studien/Studie_geschlechtersensible_Medizin.pdf; zuletzt aufgerufen am 11.04.2022

2. NDR Info: Gender Medizin - eine gerechte Medizin für alle; Michael Latz und Sharon Welzel; https://www.ndr.de/nachrichten/info/Gender-Medizin-eine-gerechte-Medizin-fuer-alle,gendermedizin102.html; zuletzt aufgerufen am 11.04.2022

3. Deutsche Forschungsgemeinschaft: Relevanz von Geschlecht und Vielfältigkeit in der Forschung - Checkliste für Antragstellende zur Planung von Forschungsvorhaben; https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/grundlagen_dfg_foerderung/vielfaeltigkeitsdimensionen/checkliste.pdf; zuletzt aufgerufen am 11.04.2022

4. Ärzteblatt: Studie: Deutsche wünschen sich Beachtung von Genderunterschieden in der Medizin; 01.03.2022; https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/132175/Studie-Deutsche-wuenschen-sich-Beachtung-von-Genderunterschieden-in-der-Medizin?rt=5f8b08b56e6bf55aa5546d10403d48a0; zuletzt aufgerufen am 11.04.2022

Ihr Ansprechpartner

Dr. Martin Hampel
news@limbachgruppe.com

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